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LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.02.2013, 12 Sa 90/11
Schlagworte: | Kündigung: Außerordentlich, Sexuelle Belästigung, Abmahnung | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg | |
Aktenzeichen: | 12 Sa 90/11 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 01.02.2013 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Heilbronn - 3 Ca 307/11 | |
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
- Kammern Mannheim - 12. Kammer
Aktenzeichen:
12 Sa 90/11
3 Ca 307/11 ArbG Heilbronn
(Bitte bei allen Schreiben angeben!)
Verkündet am 01.02.2013
Wehe
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
Urteil
In der Rechtssache
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, 12. Kammer (Kammern Mannheim) durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Müller, die ehrenamtliche Richterin Dr. Barnstedt und den ehrenamtlichen Richter Fuhrmann auf die mündliche Verhandlung vom 01.02.2013
für Recht erkannt:
1. Die Berufung der beklagten Stadt gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 10.11.2011 (3 Ca 307/11) wird auf Kosten der beklagten Stadt zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
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Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Stadt das gemeinsame Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 15.08.2011 wirksam außerordentlich fristlos bzw. wirksam außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 31.03.2012 kündigen konnte.
Der verheiratete Kläger wurde am 03.08.1956 geboren. Er hat keine abgeschlossene Berufsausbildung und ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Auf Grund seiner angegriffenen Gesundheit sind folgende Einschränkungen zu beachten:
- Der Kläger darf bei seiner Arbeit keine Lasten heben oder tragen, die mehr als 20 Kilogramm wiegen.
- Arbeit in Lärmbereichen ist zu vermeiden.
- Bei Reinigungsarbeiten (z. B. mit Bodenpflegemitteln) muss der Kläger persönlichen Atemschutz (eine Halbmaske Filtertyp A, Filterklasse 2) tragen.
Das Arbeitsverhältnis der Parteien besteht seit dem 01.03.1991. Die Beklagte beschäftigte den Kläger als Arbeiter im städtischen Veranstaltungszentrum. Seit Gründung der M. GmbH, die das Veranstaltungszentrum betreibt, ist der Kläger auf der Grundlage eines Gestellungsvertrags zwischen der Beklagten und der M. GmbH für diese tätig. Sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten blieb hiervon unberührt. Die M. GmbH ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der beklagten Stadt.
Der Arbeitsvertrag der Parteien verweist auf den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Gem. § 34 Abs. 2 TVöD kann die Beklagte das gemeinsame Arbeitsverhältnis nicht ordentlich kündigen. Der Kläger ist in der TVöD-Entgeltgruppe 4 eingruppiert und verdiente zuletzt monatlich 2.350,-- Euro brutto.
Die örtlichen Vorgesetzten des Klägers sind die Hausverwalter G. P. und H. R.. Der Kläger nahm keine Vorgesetztenfunktion ein, er wurde aber von G. P. und H. R. des Öfteren mit Kontroll- und Aufsichtsaufgaben betraut. Die Mitarbeiter des Veranstaltungszentrums werden morgens in ihre Aufgaben eingewiesen. Die morgendliche Besprechung findet im Foyer statt. Dort befindet sich eine Couch, die während der Besprechung eng besetzt ist. Regelmäßig fordern Hinzukommende ihre bereits sitzenden Kolleginnen und Kollegen auf, enger zusammenzurücken, damit sie sich auch setzen können.
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1994 schloss die beklagte Stadt mit der Personalvertretung eine Dienstvereinbarung über Leitlinien gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ab. Diese wurde durch die Dienstvereinbarung zum Schutz der Beschäftigten gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vom 13.04.2010 abgelöst (s. im Einzelnen Anlagen 17 zum Schriftsatz der Beklagten vom 20.09.2011, Prozessakte des Arbeitsgerichts (im Folgenden: Arb), Bl. 70 ff.). Die M. GmbH hat mit der beklagten Stadt vereinbart, dass sie die Dienstvereinbarung vom 13.04.2010 in ihrem Betrieb anwendet. Die Dienstvereinbarung enthält u. a. folgende Regelung:
„§ 5 Prävention
Die Dienststellenleistung und die Vorgesetzten haben die Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen. Im internen Fortbildungsprogramm werden die entsprechenden Seminare als Pflichtveranstaltungen für Führungskräfte angeboten. Führungskräfte sind angehalten, dafür zu sorgen, dass in ihrem Arbeitsbereich
• die persönliche Integrität und Würde aller Beschäftigten respektiert wird,
• jedem Hinweis auf sexuelle Belästigung nachgegangen wird,
• ein adäquater Umgang gewährleistet ist und über das Thema sexuelle Belästigung informiert wird (...),
• eine eindeutige Haltung zur Problematik eingenommen wird. Das Verhalten der Führungskräfte ist richtungsweisend für ein gutes Arbeitsklima.
• die Kontaktstelle über jede Beschwerde informiert wird, ggf. in anonymisierter Form.
Falls Beschäftigten nachgewiesen wurde, dass sie andere Beschäftigte oder im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit Dritte sexuell belästigt haben, sind sie für Vorgesetztenpositionen und als Ausbilder/innen grundsätzlich nicht geeignet. Für solche Positionen sind sie in der Regel erst dann wieder zu berücksichtigen, wenn das Personal- und Organisationsamt in Kooperation mit der Kontaktstelle nach entsprechenden Gesprächen sowie der Bewertung des weiteren Verhaltens der Betreffenden über einen angemessenen Zeitraum hinweg zu dem Ergebnis kommen, dass sie in Zukunft Gewähr bieten, sich entsprechend dieser Dienstvereinbarung zu verhalten. Vorausset-
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zung dafür ist, dass die sexuelle Belästigung nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat.“
Am 19.07.2011 beschwerte sich M. K., eine Kollegin des Klägers, ebenfalls bei der beklagten Stadt angestellt und für die M. GmbH im Veranstaltungszentrum tätig, bei G. P. über den Kläger. Dieser belästige sie sexuell mit Worten und beschimpfe sie als Schlampe und Hure. Hierzu wurde der Kläger einen Tag später von G. P. und H. R. angehört. Der Kläger bestritt die ihm vorgeworfene sexuelle Belästigung. Er habe M. K. lediglich vorgehalten, nicht sauber zu putzen. G. P. und H. R. wiesen den Kläger darauf hin, er habe die „ von Frau K. gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab sofort zu unterlassen, andernfalls würden arbeitsrechtliche Schritte eingeleitet werden“ (Aktenvermerk vom 20.07., Anlage K 5 zum Schriftsatz des Klägers vom 27.10.2011, Arb Bl. 105).
Am 22.07. mailte das Betriebsratsmitglied der M. GmbH P. B. dem Geschäftsführer B. W. Folgendes:
„Protokoll über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ...
Am 11.07.2011 kam Fr. M. K. zu mir und bat mich mit Herrn ... zu sprechen, weil er sie immer wieder sexuell belästigt - mit entwürdigenden, anzüglichen Witzen und Bemerkungen sowie unerwünschten körperlichen Übergriffen.
Einen Tag später habe ich Herrn ... darauf angesprochen und gebeten damit aufzuhören. Dieses Verhalten hat Herr ... verneint, dann habe ich erwidert, dass ich ihn dabei beobachtet habe.
Darauf sagte er “das war nur Spass“. Ich habe ihm eindeutig erklärt, dass Frau M. K. sich belästigt fühlt und er dies bitte unterlassen soll.
Am 15.07.2011 kam Frau M. H. zu mir in einer sehr schlechten seelischen Verfassung und sagte, Herr ... habe sie mit unerwünschten körperlichen Übergriffen und Berührungen belästigt.
Sie habe ihn gebeten, sie in Ruhe zu lassen und aufzuhören.
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Am 19.07.2011 kam Frau D. zu mir mit der Bitte, ich soll den Betriebsrat informieren, dass Herr ... sie mehrmals sexuell belästigt hat, indem er sie unerwünscht körperlich berührt hat und anzügliche Bemerkungen über sexuelle Wünsche geäußert hat.
Frau D. möchte noch gerne wissen lassen, daß sie bei Herr R. war und ihn informiert hat über das Verhalten von Herr ... Da kamm die Antwort „Das ist jetzt kein Thema“.“
Mit E-Mail vom 23.07. informierte F. W., ebenfalls Geschäftsführer der M. GmbH, T. St., Gruppenleiter Personal bei der beklagten Stadt, über diese Vorwürfe. Am 26.07. trugen M. K., C. D. und M. H. die gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe gemeinsam der Kontaktstelle gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vor, die die beklagte Stadt eingerichtet hat. Der Kläger wurde von der Beklagten am 02.08.2011 angehört.
Die beklagte Stadt beantragte mit Schreiben vom 03.08. beim Integrationsamt, der beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger, vor-sorglich auch der außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist zuzustimmen. Das Integrationsamt stimmte dem Kündigungsvorhaben der beklagten Stadt mit Bescheid vom 11.08.2011 zu. Der Bescheid wurde der beklagten Stadt am 15.08. zugestellt. Der Widerspruch des Klägers gegen den Zustimmungsbescheid des Integrationsamts blieb erfolglos. Über seine beim Verwaltungsgericht eingereichte Klage war zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 04.08.2011 unterrichtete die Beklagte den zuständigen Personalrat (Anlage 6 zum Schriftsatz der Beklagten vom 20.09.2011, Arb Bl. 50), die Schwerbehindertenvertretung (Anlage 9, Arb Bl. 53) und den Betriebsrat der M. GmbH (Anlage 7, Arb Bl. 51) darüber, dass sie beabsichtige, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos, vorsorglich mit sozialer Auslauffrist zu kündigen. Die angeschriebenen Gremien stimmten der beabsichtigten Kündigung am 05.08, 10.08. und 04.08. zu.
Die beklagte Stadt kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 15.08.2011 (s. im Einzelnen Anlage K 3 zur Klagschrift, Arb Bl. 20 ff.) außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist mit Ablauf des 31.03.2012. Das Kündigungsschreiben wurde dem Kläger am selben Tag durch einen Boten ausgehändigt. Seine Klage ging am 30.08. beim Arbeitsgericht ein und wurde der beklagten Stadt am 02.09.2011 zugestellt.
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Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung verfügte die beklagte Stadt zumindest über die folgenden freien Arbeitsplätze:
- motorisierter Straßenreiniger (Betriebsamt, Stellenplan Nr. 680.0413.00), Entgeltgruppe 4, 39-Wochenstunden - besetzt ab 01.11.2011
- Raumpfleger (Betriebsamt, Stellenplan Nr. 681.3000.01), Entgeltgruppe 2, 25-Wochenstunden - besetzt ab 12.09.2011
Der motorisierte Straßenreiniger ist für die Straßen- und Gehwegreinigung, die Leerung von Abfalleimern, die Entfernung von Unkraut auf Asphalt, Gehwegen und Straßenübergängen, für Reinigungsarbeiten im Rahmen von städtischen Veranstaltungen, für den Winterdienst und die Laubbeseitigung zuständig. Bei seiner Arbeit hat er Maschinen, z. B. Laubsauger, zu bedienen. Zumindest im Winterdienst ist der Kläger auf Grund seiner Schwerbehinderung nur eingeschränkt einsetzbar.
Der Kläger hat vorgetragen,
das ihm vorgeworfene Verhalten habe es nicht gegeben. Am Arbeitsplatz ... bestehe allerdings ein Arbeitsklima, in dem anzügliche Bemerkungen und schmutzige Witze als normal angesehen würden und sich unter den Kolleginnen und Kollegen niemand mehr darüber aufrege. Es sei auch mehrfach vorgekommen, dass sich C. D. im Foyer auf den Schoß eines Kollegen, der auf der Couch gesessen habe, gesetzt habe, so lange die Vorgesetzen nicht vor Ort gewesen seien. C. D. habe sich auf der Couch auch zwischen zwei Kollegen gesetzt und deren Arme gestreichelt.
Hinzu komme, dass er sich bei einem Teil der Kolleginnen und Kollegen unbeliebt gemacht habe, weil G. P. und H. R. ihn wiederholt mit Aufsichtsaufgaben betraut hätten, obwohl er gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen keine Vorgesetztenfunktion gehabt habe. P. B., der ihm (dem Kläger) vorwerfe, ihn bei der Betriebsratswahl nicht gewählt zu haben, habe A. R., die auch im Veranstaltungszentrum arbeite, im April 2011 angerufen und ihr mitgeteilt, er habe ein Schreiben zu den sexuellen Belästigungen des Klägers vorbereitet, das sie nur unterschreiben müsse. Sie habe ihm geantwortet, sie sei von ihm (dem Kläger) noch nie sexuell belästigt worden und werde nichts unterschreiben, dessen Inhalt sie nicht kenne.
Richtig sei lediglich, dass er C. D. darauf aufmerksam gemacht habe, dass ihre Unterwäsche über den Rand der oft getragenen Hose hinausrage und dass dies kein gutes Bild abgebe.
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Der Kläger hat beantragt,
1. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 15.08.2011 weder außerordentlich fristlos noch außerordentlich fristlos mit sozialer Auslauffrist zum 31.03.2012 aufgelöst wird.
2. die Beklagte wird verurteilt, den Kläger über den 15.08.2011 hinaus für die Dauer des Rechtsstreits als Arbeiter zu im Übrigen unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.
Die beklagte Stadt hat beantragt Klagabweisung.
Sie hat behauptet,
der Kläger habe M. K., C. D. und M. H. wie folgt sexuell belästigt: M. K.:
- Im Frühjahr 2011 habe sie zusammen mit dem Kläger und P. B. den Auftrag gehabt, das Stuhllager im Untergeschoss der H. aufzuräumen und zu putzen. Nach getaner Arbeit seien sie vor der Tür des Lagers gestanden. Unter Hinweis auf seine Haare habe der Kläger M. K. gesagt, sie könne sich daran festhalten, wenn sie auf ihm sitze. Ihr Mann habe ja keine Haare mehr. M. K. habe daraufhin dem Kläger gesagt, er solle aufhören, einen solchen Blödsinn zu reden. Auch P. B. habe ihm gesagt, er solle damit aufhören.
- Am 06.07.2011 sei M. K. zusammen mit H. O. für den Garderobendienst, der Kläger für den Saaldienst eingeteilt gewesen. M. K. habe Bermudas getragen. In der Garderobe des Veranstaltungszentrums sei der Kläger M. K. sehr nahe gekommen. Er habe sie nicht berührt, aber ein Streicheln der Beine angedeutet.
- Zu einem unbekannten Zeitpunkt sei M. K. die Treppe vom ersten Obergeschoss des Veranstaltungszentrums zum Erdgeschoss heruntergegangen. Das habe der Kläger ge-
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sehen und sie angestarrt. Er habe zu ihr gesagt: „Ich will ficken“. M. K. habe erwidert, er solle aufhören.
C. D.:
- Etwa 2008 habe der Kläger C. D. während einer Bestuhlung des großen Saals gesagt, er gebe ihr für eine Nacht 20.000,-- Euro.
- Im April 2010 habe C. D. das Waschbecken der Damentoilette im Untergeschoss geputzt. Der Kläger sei von hinten an sie herangetreten und habe ihr gesagt, ich bin allein, du bist allein. Er habe C. D. von hinten gepackt und an sich herangezogen. Sie habe sich unter das Waschbecken gedrückt und geschrien, er solle sie in Ruhe lassen und gehen. Der Kläger sei dann gegangen.
- Der Kläger habe C. D. immer wieder gesagt, welche aktuelle Farbe ihre Unterwäsche habe.
M. H.:
- Es sei mehrfach vorgekommen, dass M. H. auf einer Leiter gestanden habe, um die Einleuchtung im ...-Saal oder im ...-Saal vorzunehmen. Der Kläger habe an der Leiter gestanden, ihr auf den Po gestarrt und ihr gesagt, diesen Arsch wolle er einmal anfassen.
- Ebenso sei es vorgekommen, dass der Kläger im Foyer von der Seite an M. H. herangetreten sei und sie an sich gedrückt habe.
- Am 15.07.2011 habe M. H. in der Spätschicht im ...-Saal am Lichtpult gestanden, um die Beleuchtung und Lichtstimmung zu programmieren. Der Kläger sei im Saal gewesen, um Tische zu stellen und den Saal zu bestuhlen. Er habe M. H. zugesehen und sich auf einen Stuhl gesetzt, der hinter ihr gestanden habe. Dann sei der Kläger mit dem Stuhl an M. H. herangerückt und habe sie von hinten auf seinen Schoß gezogen. Sie habe ihn aufgefordert loszulassen, woraufhin er nur gelacht habe. M. H. habe sich mit voller Kraft vom Kläger losreißen müssen und sei aus dem Saal gegangen.
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Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 10.11.2011 stattgegeben. Gehe man von den Behauptungen der beklagten Stadt aus, seien dem Kläger folgende sexuelle Belästigungen vorzuwerfen:
- verbale sexuelle Belästigungen („ich will ficken“, Geldangebot für eine Nacht, Äußerung über Farbe der Unterwäsche, Äußerungen gegenüber M. H., ihren Po anfassen zu wollen)
- sexuelle Belästigung durch Gesten (angedeutetes Streicheln der Beine)
- sexuelle Belästigung durch Körperkontakt (April 2010: Anpacken C. D. von hinten; Juli 2011: M. H. auf den Schoß gezogen).
Die Richtigkeit der Beklagtenbehauptungen unterstellt, stelle ein derartiges Verhalten an sich einen wichtigen Grund dar, ein Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen. Berücksichtige man jedoch die konkreten Umstände des vorliegenden Falls, sei die ausgesprochene Kündigung unverhältnismäßig und daher unwirksam. Der Kläger hätte abgemahnt werden müssen. Dass eine Abmahnung ohne Erfolg geblieben wäre, sei nicht ersichtlich. Der Kläger habe nicht zwangsläufig mit einer Kündigung rechnen müssen. Wie der Maßnahmenkatalog in § 7 der Dienstvereinbarung zum Schutz der Beschäftigten gegen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz zeige, gebe es nicht nur die Kündigung des Arbeitsverhältnisses als Reaktionsmöglichkeit auf eine sexuelle Belästigung. Die dem Kläger vorgeworfenen sexuellen Belästigungen seien auch nicht so schwerwiegend gewesen, dass er allein deshalb mit der außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses habe rechnen müssen. Er habe nicht un-mittelbar zu sexuellen Handlungen aufgefordert oder Handlungen vorgenommen, die sich unmittelbar auf Geschlechtsorgane bezogen hätten. Zudem habe die Beklagte nicht vorgetragen, weshalb es ihr nicht möglich gewesen sei, den Kläger zu versetzen, statt das Arbeitsverhältnis zu kündigen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde dem Prozessbevollmächtigten der beklagten Stadt am 05.12.2011 zugestellt. Die Berufung ging am 16.12., die Berufungsbegründung am 03.02. beim Landesarbeitsgericht ein. Die Berufungsbegründung wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13.02. zugestellt. Die Berufungserwiderung erreichte am 09.03.2012 das Landesarbeitsgericht.
Die beklagte Stadt trägt vor,
bei schwerwiegenden vorsätzlichen Pflichtverletzungen, wie sie dem Kläger vorgeworfen würden, könne das Arbeitsverhältnis auch ohne vorangegangene Abmahnung außerordent-
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lich gekündigt werden. Ob eine schwerwiegende Pflichtverletzung vorliege, bestimme sich nach objektiven Maßstäben, Gesichtspunkte der Interessenabwägung seien in diesem Zusammenhang unerheblich.
Die sexuellen Belästigungen des Klägers seien so schwerwiegend, dass sie diese - auch für den Kläger erkennbar - nicht habe hinnehmen können. Der Kläger habe gegenüber seinen Kolleginnen körperliche Gewalt, u.a. in einer entlegenen Toilette, eingesetzt, der sich die Kolleginnen nur mit Kraftanstrengung hätten entziehen können. Hinzu komme, dass sich die Verfehlungen des Klägers über mehrere Jahre erstreckten.
Zudem sei der Kläger durch die Dienstvereinbarung vom 13.04.2010 vorgewarnt gewesen. Aus dem Maßnahmenkatalog des § 7 gehe hervor, dass ein Arbeitsverhältnis wegen sexueller Belästigung ordentlich und außerordentlich gekündigt werden könne. Mit einer Abmahnung des Klägers wäre sie deshalb ihrer Verpflichtung nach § 12 Abs. 3 AGG, Benachteiligungen gem. § 3 Abs. 4 AGG zu unterbinden, nicht nachgekommen. Eine Abmahnung hätte keine Gewähr dafür geboten, dass sich sexuelle Übergriffe durch den Kläger nicht wiederholten.
Eine Versetzung des Klägers sei von vornherein nicht in Betracht gekommen. Sie sei nur bei arbeitsplatzbezogenen Kündigungsgründen in Erwägung zu ziehen. Das Verhalten des Klägers habe es ihr aber unzumutbar gemacht, ihn überhaupt weiterzubeschäftigen. Ihr Vertrauen in die Person des Klägers sei arbeitsplatzunabhängig zerrüttet gewesen. Zudem habe es zum Kündigungszeitpunkt keine geeignete freie Stelle gegeben. Aus arbeitsmedizinischen Gründen könne der Kläger nur eingeschränkt als motorisierter Straßenreiniger eingesetzt werden. Insbesondere im Winter könne er mangels Belastbarkeit nicht regulär als solcher beschäftigt werden. Auf eine Stelle als Raumpfleger hätte der Kläger wegen der unterschiedlichen Eingruppierung und der unterschiedlichen Wochenarbeitszeiten nicht versetzt werden können.
Die beklagte Stadt beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 10.11.2011, - 3 Ca 307/11 - wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
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Er trägt vor,
das Arbeitsgericht habe richtig entschieden, dass die Kündigung der Beklagten unverhältnismäßig sei. Unabhängig davon, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe unberechtigt seien, hätte er vor einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses zumindest abgemahnt werden müssen. Eine Negativprognose habe in Bezug auf seine Person nicht getroffen werden können. Das vorgeworfene Verhalten sei nicht so schwerwiegend, dass eine Abmahnung ausgeschlossen sei. Es würden ihm nur zwei Vorkommnisse vorgeworfen, bei denen die sexuelle Belästigung über Andeutungen und Verbales hinausgegangen sein sollten. Davon habe ein Vorkommnis zum Kündigungszeitpunkt mehr als ein Jahr zurückgelegen. Im Hinblick auf das geschilderte Arbeitsklima ... sei eine Abmahnung ebenfalls erforderlich gewesen.
Der beklagten Stadt sei es auch möglich gewesen, ihn auf einen Arbeitsplatz als motorisierter Straßenreiniger zu versetzen. Sie habe dies im Rahmen der Weiterbeschäftigung nach dem erstinstanzlichen Urteil letztendlich getan. Über die genannten freien Stellen hinaus hätte die Beklagte auch Versetzungsmöglichkeiten in ihre Eigenbetriebe und innerhalb der M. GmbH prüfen müssen, was sie unterlassen habe.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Berufung der beklagten Stadt gegen das Urteil des Arbeitsgerichts vom 10.11.2011 (3 Ca 307/11) hat in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat mit zutreffender Begründung richtig entschieden. Die zulässige Klage ist begründet. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 15.08.2011 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien weder fristlos noch mit Ablauf des 31.03.2012 aufgelöst. Der Kläger ist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens vorläufig als Arbeiter weiterzubeschäftigen (4).
Die außerordentliche Kündigung der Beklagten ist unwirksam, weil sie die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht erfüllt. Der beklagten Stadt war es bei Berücksichtigung aller Umstände und der beiderseitigen Interessen zumutbar, das Arbeitsverhältnis der Parteien bis zum Ablauf einer fiktiven Kündigungsfrist entsprechend § 34 Abs. 1 TVöD von sechs Mo-
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naten zum Quartalsende am 31.03.2012 und darüber hinaus auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.
Die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in zwei Schritten zu prüfen. Zunächst ist festzustellen, ob der Kündigungssachverhalt ohne seine Besonderheiten „an sich“, d.h. typischerweise geeignet ist, als wichtiger Grund die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu begründen. Kann dies bejaht werden, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Arbeitgeber bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, hier - wegen des Ausschlusses einer ordentlichen Kündigung - auch darüber hinaus, zugemutet werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227, Rn. 16; Urteil vom 09.06.2011, 2 AZR 323/10, NZA 2011, 1342, Rn. 14).
Ausgehend vom Sachvortrag der beklagten Stadt, der auch im Folgenden zur rechtlichen Prüfung als richtig unterstellt wird, hat das Arbeitsgericht zutreffend die nachvollziehbaren Vertragsverletzungen, die dem Kläger vorgeworfen werden, aufgelistet und als sexuelle Belästigungen bewertet (1). Ebenso zutreffend ist die Feststellung des Arbeitsgerichts, dass derartige Vertragsverletzungen grundsätzlich geeignet sind, die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu begründen (2). Schließlich ist dem Arbeitsgericht darin zu folgen, dass der beklagten Stadt die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses dennoch zumutbar war, weil ihr andere Handlungsmöglichkeiten als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses offenstanden, die eingetretene Vertragsstörung zu beseitigen. Der Kläger hätte abgemahnt (3 a) und zukünftig außerhalb des Veranstaltungszentrums eingesetzt werden können (3 b).
1. Soweit die Schilderungen der beklagten Stadt ausreichen konkret sind, hat der Kläger - unterstellt, die Schilderungen sind zutreffend - seine arbeitsvertraglichen Pflichten gegenüber der Beklagten wie folgt verletzt:
- Er wurde gegenüber zwei Kolleginnen tätlich. Im April 2010 packte er C. D. in der Damentoilette von hinten und zog sie an sich. Am 15.07.2011 packte er M. H. ebenfalls von hinten und zog sie auf seinen Schoß.
- Er belästigte M. K. am 06.07.2011 mit Gesten, die ein Streicheln ihrer Beine andeuten sollten.
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- Er beleidigte drei Kolleginnen verbal, indem er
- zu M. K. auf der Treppe sagte „ich will ficken“.
- M. H. wiederholt auf den Po starrte, wenn diese auf einer Leiter stand, und dazu bemerkte, „diesen Arsch“ wolle er einmal anfassen.
- C. D. auf die aktuelle Farbe ihrer Unterwäsche hinwies.
- 2008 während einer Bestuhlung des großen Saals C. D. sagte, er gebe ihr für eine Nacht 20.000,-- Euro.
- im Frühjahr 2011 gegenüber M. K. äußerte, sie könne sich an seinen Haaren festhalten, wenn sie auf ihm sitze. Ihr Mann habe ja keine Haare mehr.
Gem. § 7 Abs. 3 i. V. mit Abs. 1 AGG stellt es einen Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten dar, wenn ein Arbeitnehmer Arbeitnehmerinnen benachteiligt, weil sie Frauen sind. Gem. § 3 Abs. 3 AGG kann eine Benachteiligung auch in einer Belästigung, gem. § 3 Abs. 4 AGG insbesondere in einer sexuellen Belästigung, bestehen. Eine Belästigung ist dann eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und damit zugleich ein Verstoß gegen den Arbeitsvertrag, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit einem in § 1 AGG genannten Grund (hier: dem Geschlecht) stehen, bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt oder ein von Einschüchterungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Bei einer sexuellen Belästigung handelt es sich um ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten, wie z. B. sexuell bestimmte körperliche Berührungen oder Bemerkungen sexuellen Inhalts.
Sämtliche oben angeführten konkreten Verhaltensweisen, die die beklagte Stadt dem Kläger vorwirft, sind sexuelle Belästigungen der betroffenen Kolleginnen. Sie sind sexuell bestimmt. Andere Beweggründe sind zum Teil schon wegen des Inhalts der Bemerkungen ausgeschlossen, aber auch sonst nicht ersichtlich. Die vorgeworfenen Verhaltensweisen sind Ausdruck der Geringschätzung der Frauen und würdigen diese herab. Soweit die Vorwürfe der beklagten Stadt zutreffen, hat der Kläger in erheblichem Maße gem. § 7 Abs. 3 AGG gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen.
2. Die skizzierten Verhaltensweisen sind an sich geeignet, die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu begründen. Es handelt sich um sexuelle Belästigungen, die - losgelöst von den besonderen Umständen des Einzelfalls - typischerweise einen
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wichtigen Grund darstellen, ein Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen (vgl. BAG, NZA 2011, 1342, Rn. 16).
3. Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung - hier wegen des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung - auf unbestimmte Zeit zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung bzw. der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit sozialer Auslauffrist gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Wichtige Aspekte sind dabei das Gewicht und die Auswirkungen der in Frage stehenden Vertragspflichtverletzungen, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Die außerordentliche Kündigung ist ausgeschlossen, wenn dem Arbeitgeber andere zumutbare weniger einschneidende Handlungsmöglichkeiten wie Abmahnung, Versetzung oder außerordentliche Änderungskündigung (die ordentliche Kündigung ist hier ausgeschlossen) zur Verfügung stehen, die eingetretene Vertragsstörung zu beseitigen (vgl. BAG, NZA 2010, 1227, Rn. 34; NZA 2011, 1342, Rn. 27).
Geht es - wie hier - um sexuelle Belästigungen und den Schutz der Beschäftigten vor zukünftigen sexuellen Belästigungen, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, an dem die außerordentliche Kündigung zu messen ist, durch § 12 Abs. 3 AGG konkretisiert. Hierauf hat die beklagte Stadt zu Recht hingewiesen. Die Vorschrift verpflichtet den Arbeitgeber bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 AGG, zu denen auch sexuelle Belästigungen gehören, die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um zukünftige Benachteiligungen zu „unterbinden“. Geeignet im Sinne der Verhältnismäßigkeit sind daher nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, d. h. eine Wiederholung ausschließen (vgl. BAG, NZA 2011, 1227, Rn. 28).
Hiervon ausgehend bedurfte es der außerordentlichen Kündigung des Klägers nicht. Eine Abmahnung verbunden mit einer Versetzung oder einer außerordentlichen Änderungskündigung hätte ausgereicht, die eingetretene Vertragsstörung zu beseitigen und für die Zukunft sexuelle Belästigungen des Klägers auszuschließen.
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a) Der Arbeitnehmer, der auf Grund eines steuerbaren Verhaltens seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, ist grundsätzlich vor Ausspruch einer Kündigung abzumahnen. Das gilt auch dann, wenn die Vertragsverletzung des Arbeitnehmers das Vertrauen des Arbeitgebers in seine Person beeinträchtigt, soweit mit der Wiederherstellung des Vertrauens gerechnet werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 04.06.1997, 2 AZR 526/96, DB 1997, 2386 (2387)). Einer Abmahnung bedarf es demnach nicht, wenn eine Verhaltensänderung in der Zukunft selbst nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass der Arbeitnehmer erkennen konnte, der Arbeitgeber werde diese nicht hinnehmen und das Arbeitsverhältnis beenden (vgl. BAG, NZA 2010, 1227, Rn. 37).
Keiner der beiden Ausnahmefälle, in denen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts von einer Abmahnung des Arbeitnehmers abgesehen werden kann, liegt vor. Für den Kläger war weder erkennbar, dass das ihm vorgeworfene Verhalten unweigerlich zur außerordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen würde. Noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass eine Abmahnung - die Richtigkeit der Vorwürfe unterstellt - keine Verhaltensänderung bewirkt hätte.
Ob die arbeitsrechtlichen Konsequenzen eines Vertragsverstoßes für den Arbeitnehmer auch ohne einen gesonderten Hinweis des Arbeitgebers erkennbar sind, hängt zum einen von der Schwere des Vertragsverstoßes und zum anderen von der Eindeutigkeit der Personalführung des Arbeitgebers ab. Geht man weiterhin davon aus, die Vorwürfe der beklagten Stadt träfen zu, stellen die Verhaltensweisen des Klägers insgesamt gesehen Vertragsverletzungen von erheblichem Gewicht dar. Dabei haben sowohl die beklagte Stadt als auch das Arbeitsgericht die maßgebenden Aspekte herausgearbeitet. Die Schwere der Vertragsverletzungen folgt daraus, dass sich die vorgeworfenen sexuellen Belästigungen kontinuierlich über einen längeren Zeitraum erstreckten, und daraus, dass der Kläger in zwei Fällen gegenüber Kolleginnen tätlich wurde, in einem Fall - mehr als ein Jahr vor Ausspruch der Kündigung - in einer entlegenen Damentoilette. Dennoch zeigen die dem Kläger vorgeworfenen Vertragsverletzungen auch Grenzen auf. Es handelt sich bei den Tätlichkeiten um zwei - zeitlich weit auseinanderfallende - Einzelfälle, die der Kläger schnell einstellte und bei denen es nicht zu Berührungen äußerer Geschlechtsorgane kam. Das Ausnutzen eines entlegenen Orts wiederholte sich in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr bis zur außerordentlichen Kündigung nicht und ist daher für die dem Kläger vorgeworfenen Vertragsverletzungen nicht
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charakteristisch. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, unmittelbare Aufforderungen zu sexuellen Handlungen, Handlungen mit unmittelbarem Bezug auf Geschlechtsorgane oder sexuelle Handlungen werden dem Kläger nicht vorgeworfen. Das ändert zwar nichts daran, dass die dem Kläger vorgeworfenen Verhaltensweisen gewichtige Vertragsverletzungen darstellen, die für den Kläger als solche erkennbar waren, macht aber deutlich, dass bestimmte Grenzen nicht überschritten wurden.
Dass der Kläger - die Richtigkeit der Vorwürfe unterstellt - die Vertrags- und Rechtswidrigkeit seiner Verhaltensweisen erkennen konnte, bedeutet aber nicht, dass er auch erkennen konnte, er riskiere damit sein Arbeitsverhältnis. Entscheidend ist insoweit nicht der Umstand, dass es die Dienstvereinbarung zum Schutz der Beschäftigten gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vom 13.04.2010 und die Verpflichtungsvereinbarung der beklagten Stadt und der H. Marketing GmbH gibt. Entscheidend ist, wie die Dienstvereinbarung vor Ort umgesetzt wird. Lässt die Personalführung, repräsentiert durch die örtlichen Vorgesetzten, keine Zweifel auf-kommen, dass sexuelle Belästigungen jeder Art nicht toleriert werden und zu Konsequenzen führen, ist es für den Arbeitnehmer offenkundig, welche Folgen ein entsprechendes Verhalten haben kann. Nimmt die Personalführung hierzu keine eindeutige Stellung ein und geht dem Thema faktisch aus dem Weg, kann sich bei dem Arbeitnehmer kein entsprechendes Bewusstsein über die Folgen sexueller Belästigungen entwickeln.
In der Arbeitsorganisation des Veranstaltungszentrums lässt sich keine eindeutige Stellung der örtlichen Vorgesetzten feststellen:
- Darauf deuten bereits die örtlichen Gegebenheiten hin. Wird alltags bei der morgendlichen Besprechung das Gedränge auf der Couch im Foyer toleriert, verwischen sich die Grenzen zwischen kollegialer Nähe und unerwünschter Annäherung.
- Sieht man von der schwerwiegenden Ausnahme der Damentoilette ab, schildert die beklagte Stadt kontinuierliche sexuelle Belästigungen des Klägers über einen längeren Zeitraum, die nicht im Verborgenen, sondern im Foyer, in den Sälen oder an der Treppe, auch in Gegenwart eines Dritten, stattfanden. Das vorgeworfene Verhalten des Klägers blieb dennoch folgenlos.
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- C. D. ließ über den Betriebsrat ausrichten, einer der vorgesetzten Hausverwalter habe auf die Mitteilung sexuellen Belästigungen mit der Bemerkung reagiert, das sei jetzt kein Thema.
- Auch die Beschwerde M. K. blieb vor Ort ohne Konsequenzen. Entgegen § 5 der Dienstvereinbarung vom 13.04.2010 gingen G. P. und H. R. der Beschwerde nicht nach, sondern begnügten sich mit der gegenläufigen Stellungnahme des Klägers. Ohne einen Versuch, den Sachverhalt auch durch Befragen anderer Mitarbeiter(innen) zu ermitteln, wurde der Kläger in Unkenntnis des zutreffenden Sachverhalts, deshalb nicht ernstzunehmen, formal mündlich abgemahnt und zur Weiterarbeit mit seinen Kolleginnen, auch M. K., entlassen. Die Geschäftsführung wurde von G. P. und H. R. nicht informiert.
In einem derartigen Arbeitsumfeld war es für den Kläger nicht erkennbar, dass die ihm vorgeworfenen Verhaltensweisen zur außerordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen würden. Unter diesem Aspekt war eine Abmahnung des Klägers folglich nicht entbehrlich.
Es kann auch nicht angenommen werden, der Kläger hätte das vorgeworfene Verhalten nach einer Abmahnung fortgesetzt. Er ist auf Grund seines Alters, der angeschlagenen Gesundheit und des Fehlens jeglicher beruflicher Qualifikation dringend auf einen Arbeitsplatz bei der beklagten Stadt angewiesen. Eine Abmahnung hätte daher eine beträchtliche Zwangswirkung auf ihn gehabt, zukünftig mit Kolleginnen ausnahmslos respektvoll umzugehen und anzügliche Bemerkungen zu unterlassen. Sie wäre dementsprechend auch im Sinne des § 12 Abs. 3 AGG geeignet gewesen, weitere sexuelle Belästigungen des Klägers zu unterbinden.
b) Zudem hatte die beklagte Stadt zum Kündigungszeitpunkt die Möglichkeit, den Kläger außerhalb des Veranstaltungszentrums weiterzubeschäftigen.
Eine Abmahnung allein hätte trotz der damit verbundenen positiven Prognose, der Kläger werde sich zukünftig vertragsgemäß verhalten, nicht ausgereicht, die vorgeworfene Vertragsstörung insgesamt zu beseitigen. Die berechtigten Interessen der von den sexuellen Belästigungen betroffenen Kolleginnen - die Richtigkeit der Vorwürfe unterstellt - schlossen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger - arbeitsplatzbezogen - aus. Eine Abmahnung des Klägers hätte es nicht vermocht, die Vorbehalte - möglicherweise bis hin zu Angstgefühlen - der betroffenen Frauen
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gegenüber dem Kläger auf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit abzubauen. Die vorgeworfene Vertragsstörung war folglich nur bei einer Weiterbeschäftigung des Klägers außerhalb der H. vollständig zu beseitigen.
Auch diese Handlungsmöglichkeit stand der beklagten Stadt zum Kündigungszeit-punkt als milderes Mittel offen. Sie konnte den Kläger als motorisierten Straßenreiniger einsetzen, wobei die Anforderungen im Rahmen des § 81 Abs. 4 Nrn. 4 und 5 SGB IX zu modifizieren waren. Die Angaben der beklagten Stadt lassen nicht den Schluss zu, dass der Kläger auch innerhalb dieses rechtlichen Rahmens auf Grund seiner angeschlagenen Gesundheit nicht regulär als motorisierter Straßenreiniger beschäftigt werden kann. Selbst wenn das der Fall sein sollte, hätte die Beklagte als milderes Mittel zur Vermeidung einer außerordentlichen Beendigungskündigung die Möglichkeit gehabt, dem Kläger eine außerordentliche Änderungskündigung auszusprechen und ihm die offene Stelle eines Raumpflegers in Teilzeit anzubieten. Auch eine derartige Maßnahme wäre verbunden mit einer Abmahnung des Klägers aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der außerordentlichen Beendigungskündigung vorzuziehen gewesen.
Die außerordentliche Kündigung der beklagten Stadt vom 15.08.2011 war somit unverhältnismäßig und erfüllt deshalb nicht die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB. Sie hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst.
4. Der zulässige Weiterbeschäftigungsantrag (Klagantrag Ziff. 2) ist ebenfalls begründet. Es geht um die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers als Arbeiter, unabhängig von einem bestimmten Einsatzort. Die Vertragsbedingungen, auf die insoweit verwiesen wird, enthalten keine Konkretisierung der Arbeitspflichten des Klägers auf das Veranstaltungszentrum. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien nach dem bestätigten erstinstanzlichen Urteil fortbesteht, kann der Kläger von der beklagten Stadt verlangen, zumindest vorläufig als Arbeiter weiterbeschäftigt zu werden. (Vgl. im Einzelnen BAG, Großer Senat, Beschluss vom 27.02.1985, GS 1/84, NZA 1985, 702 ff.). Die beklagte Stadt hat keine schützenswerten Interessen vorgetragen, die einer vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstünden. Gegen den Beschäftigungstitel des angegriffenen Urteils hat sie im Rahmen der Berufung auch keine gesonderten Einwendungen erhoben. Das Arbeitsgericht hat auch insoweit richtig entschieden.
Das Arbeitsgericht hat somit der Klage insgesamt zu Recht stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung der beklagten Stadt war zurückzuweisen.
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II.
1. Da die Berufung der beklagten Stadt ohne Erfolg geblieben ist, hat sie die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
2. Die Revision war gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen, weil die Frage, ob eine Abmahnung bei sexuellen Belästigungen der geschilderten Intensität entbehrlich ist, von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtsmittelbelehrung
1. Gegen dieses Urteil kann die beklagte Stadt schriftlich Revision einlegen. Die Revision muss innerhalb einer Frist von einem Monat, die Revisionsbegründung innerhalb einer Frist von zwei Monaten bei dem
Bundesarbeitsgericht
Hugo-Preuss-Platz 1
99084 Erfurt
eingehen.
Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
Die Revision und die Revisionsbegründung müssen von einem Prozessbevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Prozessbevollmächtigte sind nur zugelassen:
a. Rechtsanwälte,
b. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
c. juristische Personen, die die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 ArbGG erfüllen.
In den Fällen der lit. b und c müssen die handelnden Personen die Befähigung zum Richteramt haben.
2. Für den Kläger ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
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Müller
Dr. Barnstedt
Fuhrmann
Hinweis:
Die Geschäftsstelle des Bundesarbeitsgerichts wünscht die Vorlage der Schriftsätze in siebenfacher Fertigung, für jeden weiteren Beteiligten eine weitere Mehrfertigung.
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Dr. Martin Hensche Rechtsanwalt Fachanwalt für Arbeitsrecht Kontakt: 030 / 26 39 620 hensche@hensche.de | |
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